Dieser Text ist am 21. November 2025 unter dem Titel “Innovationen aus der Nische statt Hypes auf der großen Bühne” zuerst im Süddeutsche Zeitung Dossier Digitalwende erschienen.

„Treffen sich drei Hypes auf einer Party.“ Was beginnt wie ein Witz, war am Dienstag der Gipfel für europäische digitale Souveränität. Auf Einladung von Deutschland und Frankreich standen KI, Cloud und digitale Souveränität in Berlin im Fokus der hochrangigen Veranstaltung. Deren erklärtes Ziel: Europa müsse endlich „den Führungsanspruch“ bei innovativen Technologien übernehmen, so Bundeskanzler Friedrich Merz. So ein Glück: Dieses Ziel ist längst erreicht. Denn den Führungsanspruch haben wir seit Jahren – nur mit der Führungswirklichkeit hapert es leider noch immer. Warum?

Weil der Gipfel versucht, das Rennen um digitale Souveränität durch Hinterherlaufen zu gewinnen. Ja, wir müssen europäische Innovationen stärken. Ja, wir brauchen souveräne europäische Infrastruktur. Ja, zu viel europäisches Geld fließt in Innovationen auf der falschen Seite des Atlantiks. Aber nun Rechenzentren aus dem Brandenburger Boden zu stampfen, auf denen dann Software der US-Tech-Riesen läuft, ist keine digitale Souveränität, sondern Etikettenschwindel. Mit anderen Worten: Wer den Schokopudding ins Gemüsefach des Kühlschranks stellt, ernährt sich dadurch nicht gesünder.

Innovationspolitik statt Großprojekten

Was also tun? Wie nachhaltige, europäische Innovation aussehen kann, zeigt sich auf einem Gebiet, das seinen Hype schon hinter sich hat: Social Media. Auch hier ist unsere Demokratie längst von Konzernen aus den USA und China abhängig und unter Druck. Doch weitgehend unbeachtet von Politik und Big Tech existieren in Nischen bereits zahlreiche erfolgreiche, kleinere Plattformen – mit Potenzial, das es zu stärken gilt. Eine solche Perspektive entspricht einer innovations- und wirtschaftspolitischen Logik des „Scaling what works“: Statt Ressourcen in symbolische Großprojekte zu lenken, unterstützt die Politik bestehende, offene Technologie und Communities gezielt beim Übergang aus der Plattform-Nische in den Mainstream. Das stärkt Vielfalt, Resilienz und Souveränität.

Zwar haben viele der Nischen-Plattformen derzeit den Charme eines digitalen Reformhauses aus den Neunzigern: gut für das Gewissen, aber nicht so komfortabel und durchdesignt wie die Marktführer. Doch kluge Innovationsförderung setzt genau hier an, indem sie Produktentwicklung stärkt, Design-Sprints ermöglicht und sich an konkreten Anwendungsfällen orientiert. So werden aus Reformhäusern Biomärkte.

Von zarten Pflänzchen zum Ökosystem

Wie das aussehen kann, zeigt sich bereits im Kleinen an einer Initiative der Zentral- und Landesbibliothek Berlin. Die Bibliothek hat eigene Stellen für Produktmanagement und UX/Design geschaffen, um bestehende Open-Source-Tools für ihre Anwendungsfälle sowie bestehenden Nutzer:innen weiterzuentwickeln und offen für alle zur Verfügung zu stellen. Diese Herangehensweise setzt an konkreten Bedarfen an, stärkt die Qualität offener Plattforminfrastruktur nachhaltig und verbreitert zugleich deren Nutzer:innen-Basis. Und wo von Beginn auf Interoperabilität gesetzt wird, kann aus vielen Insellösungen perspektivisch ein großes Ganzes wachsen.

Aus solchen Nischen-Scale-ups entstehen dann gerade keine Kopien von Facebook oder TikTok, sondern ein „credible exit“ in Form kleiner, aber glaubwürdiger Alternativen zu Big Tech. Ganz so, wie sich Ökostrom-Anbieter einst erfolgreich am Markt etabliert haben: ohne die großen Energiekonzerne zu verdrängen – aber mit eigenen Marken, Produkten und Kundenloyalitäten. Oder Carsharinganbieter jenseits „klassischer“ Mietwagenunternehmen. Oder Open-Access-Verlage im akademischen Publikationswesen. Oder Biomärkte. Oder, oder, oder…

Aufsicht als Sparringpartnerin

Damit ein innovatives Ökosystem aus eigener Kraft der Nische entwachsen kann, muss die Politik dafür einen Rahmen schaffen. Aller Deregulierungs-Lust des Gipfels zum Trotz: Für echten Wettbewerb muss man bestehende Regeln gegen die Großen konsequent durchsetzen. Auch an gemeinsamen Herausforderungen der Kleinen lässt sich ansetzen, etwa vermeintlich rechtswidrige Inhalte zu prüfen. Diese stellen ein Haftungsrisiko für junge Plattformen dar, ihre Bewertung erfordert zugleich viel Fachwissen und Ressourcen. Hier könnten Aufsichtsbehörden unterstützend zur Seite stehen und für offene, interoperable Plattformen bis zu einer bestimmten Größe die rechtliche Bewertung übernehmen.

Weiteres Potenzial schließlich liegt darin, für die Lösung realer Probleme auf interoperable digitale Tools und Plattformen zurückzugreifen. Auf kommunaler Ebene etwa stellen sich angesichts des schrumpfenden Lokaljournalismus Fragen nach zukunftsfähiger Staat-Bürger:innen-Kommunikation und funktionierenden lokalen Öffentlichkeiten. Ein direkter Anwendungsfall für offene Plattformen mit Potenzial für Skalierung.

Innovationsförderung neu denken

Die größte Herausforderung bei alledem: Wir müssen Innovationsförderung neu denken. Nicht als Milliardeninvestition in Beton und Chips. Nicht als abgeschlossenes Dreijahresprojekt mit festen Deadlines und Zahlungstranchen. Sondern als konstruktive Begleitung und Sparring innovativer Nischen. Als gemeinsame Initiative mit, nicht trotz Aufsichtsbehörden. Als Engagement nicht nur für unsere Innovationskraft, sondern auch für – ha! – digitale Souveränität.

Der Autor

Torben Klausa leitet den Themenbereich „Digitale Öffentlichkeit“ des Think-Tanks Agora Digitale Transformation. Der promovierte Jurist untersucht in seiner Arbeit die Verteilung von Macht und Verantwortung zwischen Staat und Tech-Konzernen und ihre jeweilige Rolle für eine funktionierende Demokratie. In seinem aktuellen Papier „Aus der Plattformnische in den Mainstream“ hat er konkrete Policy-Maßnahmen zur Stärkung einer souveräne Plattform-Infrastruktur jenseits von Big Tech entwickelt.

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